· 

Erleben wie ein Außenseiter sich fühlt

Es ist Montagmorgen, Ana sitzt alleine in der Bank ganz vorne, hat ihre Unterlagen schon auf dem Tisch und blickt mich ein bisschen ängstlich an. Ana ist neu in der Klasse, erst vor vier Wochen dazugekommmen. Die Klasse der Höheren Handelsschule hat eine gute Klassen-gemeinschaft, die Schüler/innen, zwischen 16 und 18 Jahre alt, treffen sich auch mal außerhalb des Unterrichts, gehen zusammen was trinken, feiern. Sie sind unterschiedlicher Nationalität, mehr Jungs als Mädchen, aber sie waren von Anfang an kooperativ und am Austausch interessiert. Um so mehr wundert es mich, dass Ana immer noch alleine sitzt und auch in den Pausen alleine herumsteht. Man unterschätzt oft, wie es ist, später in eine Gruppe zu kommen. Ich überlege, was ich tun könnte, um Ana zu helfen und erinnere mich an ein Spiel, das wir in unserer Lions Quest (LQ) Fortbildung Zukunft in Vielfalt kennengelernt haben, es nennt sich Bergdorfspiel.

 

Ich bitte meine Schüler/innen sich mit Stühlen in einen Kreis zu setzen - das kennen sie schon aus anderen LQ-Übungen - und dann bitte ich drei Freiwillige sich zu melden, diese sollen den Raum verlassen, bevor ich weitere Informationen über das Spiel gebe. Wichtig ist dabei, dass nicht der oder die Außenseiter - in diesem Fall Ana - vor die Tür gehen. In meinem Fall passiert das nicht, es gehen Florian, Marian und Inga.

 

Während die drei draußen vor der Tür stehen und auf ein Signal warten hereingeholt zu werden, erläutere ich der restlichen Gruppe die Regeln des Spiels:

  1. Wir werden uns jetzt unterhalten und zwar über das Thema Klassenarbeiten. Dabei ersetzen wir das Wort Klassenarbeiten durch das Wort Ferien, also z.B.: "Na, Jasmin, wie waren denn deine Ferien gestern?" "Oh, ich bin gut zurecht gekommen, allerdings die letzte Aufgabe der Ferien, die war richtig schwierig für mich."
  2. Wir hören dem anderen nur zu, wenn er beim Sprechen die Beine übereinandergeschlagen hat. Hat er die Beine nebeneinander, beachten wir ihn gar nicht.
  3. Immer wenn jemand mit übereinandergeschlagenen Beinen das Wort "und" benutzt, rücken wir einen Platz weiter.

Das Spiel beginnt, alle Schüler/innen sind superkonzentriert, da die Regeln ja neu und vielfältig sind und keiner einen Fehler machen will. Nach einer Weile hole ich den ersten Freiwilligen herein, das ist Marian. Er setzt sich auf einen freien Stuhl und beobachtet erst einmal das Geschehen. In der Klasse ist er oft der Wortführer, daher versucht er auch hier gleich mit ins Gespräch zu kommen.

 

"Kann einer von euch mir mal erklären, worüber ihr redet?", fragt er, doch niemand antwortet, denn er hat die Beine nicht übereinandergeschlagen. Immer wenn ein "und" kommt, rückt die Gruppe einen Platz nach rechts. Marian macht zunächst mit, aber dann wird er bockig, vielleicht auch, weil niemand ihm antwortet und bleibt einfach sitzen. Die Gruppe rückt über ihn hinweg.

 

Wir holen die zweite Freiwillige herein, das ist Inga. Auch Inga setzt sich schnell auf ihren Platz und versucht durch Beobachtung herauszufinden, was in der Gruppe passiert. Als auch ihr niemand antwortet, steht sie auf und tippt einzelnen Mitschüler/innen auf die Schulter, um zu fragen, was hier gespielt wird und wie sie mitspielen kann. Dabei hat sie die Beine natürlich nebeneinander und so antwortet ihr niemand. Irgendwann setzt sie sich enttäuscht wieder hin und rückt ihren Stuhl nach hinten, sodass sie außerhalb des Kreises sitzt.

 

Der dritte Freiwillige, Florian, wird hereingeholt. Wie die anderen setzt er sich auf seinen Stuhl und beobachtet zunächst einmal. Er ist eher ein stiller Schüler und so guckt er eine ganze Weile, bevor er einen, seiner Meinung nach passenden Satz "Ich habe auch gerne Ferien und war im Sommer auf Mallorca", einwirft, den aber niemand beachtet, weil er die Beine nicht übereinander geschlagen hat. Florian lässt sich nicht entmutigen und fügt sich in das Spiel, soweit möglich. Er rückt weiter, wenn alle weiter rücken und beobachtet interessiert die Gesichter und das Gespräch der anderen.

 

Nach 15 Minuten beende ich das Spiel, erkläre die Regeln auch den Freiwilligen und es ist Zeit für die Reflexion.

 

Ich frage die Freiwilligen nach ihren Erfahrungen, wie haben sie sich gefühlt, als sie den Raum betreten haben und den Stuhlkreis und wie hat sich ihr Befinden im Lauf der Zeit entwickelt. Wie haben sie sich verhalten und warum? Ich fordere sie auch auf zu sagen, was ihnen Unangenehmes passiert ist und welches Verhalten sie sich gewünscht hätten.

 

Alle sind sich einig darin, dass die Situation sehr unangenehm war, sie haben sich fremd und unwillkommen gefühlt. Gewünscht hätten sie sich angesprochen zu werden. Ihr Verhalten hatte viel mit ihrer Persönlichkeit zu tun. Marian sagt zwar, ihm hätte das wenig ausgemacht und in der echten Situation hätte er sich einfach gedacht, wer nicht will hat schon und sich die Kopfhörer aufgesetzt, doch auch er wirkt verunsichert. Inga ist wütend, weil sich keiner für sie interessiert hat und keiner auf ihre Kommunikationsversuche reagiert hat. Sie hätte sich gewünscht, dass man ihr die Regeln erklärt und sie nicht einfach blöd stehen lässt. Florian sagt, dass er versucht hat Kontakt aufzunehmen, aber gemerkt hat, dass die anderen nicht interessiert waren, sodass er beschlossen hat, erst mal zuzugucken und selbst herauszufinden, welche Regeln hier gelten und später - mit mehr Wissen - noch einmal einen Versuch starten wollte.

 

Was meinen denn die Bewohner des Bergdorfes dazu? Welche Gefühle hatten sie?

Auch hier finden sich verschiedene Reaktionen: Die einen waren so damit beschäftigt, sich die Regeln des Spiels zu merken und umzusetzen, dass sie einfach kein Auge für die Neuankömmlinge hatten. Die anderen hätten sich gerne um sie bemüht, durften ihnen aber nicht antworten, weil sie die Beine nicht übereinandergeschlagen hatten. Und wieder andere haben richtig darunter gelitten, dass sie den Neuen nicht helfen durften. Sie haben sie wenigstens einen Platz weitergeschoben, wenn das dran war und versucht, durch Gestik und Mimik Zeichen zu geben. Allerdings vergebens.

 

Was ist mir aufgefallen?

Niemand, aber auch niemand in der Klasse hat versucht die Regeln zu brechen und die Neuankömmlinge einfach willkommen zu heißen oder zu integrieren.

 

Zum Abschluss frage ich:

Kennt ihr ähnliche Situationen aus eurem Alltagsleben? Welche Probleme entstehen, wenn neue Personen in eine Gruppe kommen? Welche Lösungen fallen euch ein?

 

Ana war in all der Zeit recht still, allerdings hat sie schon versucht, etwas zur Diskussion beizutragen und war da auch ganz normal in den Kreis integriert. Sie hat die Situation aufmerksam beobachtet und besonders die Freiwilligen angesehen.

 

Schaun wir mal in den nächsten Tagen, ob mein kleines Experiment Wirkung gezeigt hat, bin sehr gespannt.

 

Wie sieht es bei euch/Ihnen aus? Könntet ihr euch vorstellen, diese Methode auch auszuprobieren? Habt ihr andere Methoden, wie ihr mit Außenseitern umgeht?

 

Herzliche Grüße,

Eure Ute Matthias

Kommentar schreiben

Kommentare: 0