
Erinnerungen sind wandelbar
Am Anfang stand eine Geschichte aus Psychologie Heute: Jemand erzählte von einer glücklichen Kindheitserinnerung in den österreichischen Bergen – vom Taufen eines Kälbchens auf einer blühenden Wiese. Später stellte sich heraus: Die Berge gab es, aber keine Kühe. Die Erinnerung hatte sich mit anderen Bildern vermischt, war neu konstruiert.
Und genau das ist der Punkt: Erinnerungen sind lebendig, wandelbar, manchmal trügerisch. Sie bleiben nicht, wie sie einmal waren, sondern sie werden immer wieder neu erzählt.
Geschichten, die wieder lebendig wurden
Mit dieser Haltung sind wir am vergangenen Wochenende im VHS-Seminar „Fokus Kindheit“ eingestiegen. Zwei Tage lang tauchten die Teilnehmerinnen in ihre Kindheitswelten ein – mit Stiften, Papier, Farben und vor allem mit Geschichten. Eine erinnerte sich an den schönsten Klang ihrer Kindheit, die Kirchenglocken, eine andere, wie sie durch die Wohnung rannte, zwei an rote Haare und Hänseleien (eine davon bin ich), ein Teilnehmer an einen Tag im Kaufhaus, wo Mutter und Kind gemeinsam 20 Minuten lang fasziniert vor einem Geschirrspülautomat saßen. Auch Fantasie-erinnerungen kamen ans Licht, wie die Geschichte vom selbstgebastelten „Frankenstein“-Menschen und dem Schild an der Tür: „Bitte nicht stören – Genie bei der Arbeit.“ Affenschaukelfrisuren hatten ebenfalls ihren Erinnerungsplatz.
„Meine Kindheit war schöner, als ich dachte“
Immer wieder klang in den Rückmeldungen ein Satz an: „Meine Kindheit war doch viel schöner, als ich dachte.“ Genau das hat die gemeinsame Arbeit gezeigt. Durch das Schreiben, Erzählen und Zuhören werden Schichten freigelegt. Oft kommen zunächst die brüchigen oder schweren Erinnerungen, doch wenn man tiefer gräbt, tauchen plötzlich überraschende, stärkende Bilder auf.
Raum für das innere Kind
Mir war es in diesem Seminar besonders wichtig, ressourcenorientiert zu arbeiten. Gerade beim Thema Kindheit braucht es Sensibilität – und auch Leichtigkeit. Deshalb durfte das innere Kind mitmachen: Es gab Sticker zum Bekleben der Zines, Bastelübungen, stärkende Sätze. Nach der Mittagspause ertönte das Pippi-Langstrumpf-Lied, und die Gruppe bewegte sich durch den Raum, suchte Partner*innen und sprach über Fragen wie: „Was hast du am liebsten gespielt?“ oder „Welche Süßigkeit mochtest du als Kind?“
Schreiben, das die Seele füllt
Am Ende bleibt die Erfahrung: Biografisches Schreiben ist immer überraschend. Es weckt Erinnerungen, an die wir längst nicht mehr gedacht haben. Der Austausch lässt uns gesehen fühlen, schenkt Resonanz und Verbundenheit. Und er erinnert daran: Jede Erinnerung hat viele Seiten. Es kommt darauf an, welche wir wählen, zu sehen.
Das autobiografische Schreiben füllt die Seele. Jeder kann es. Für jede und jeden ist etwas dabei.
Schreibaufgabe zum Ausprobieren
Im Seminarmaterial ist ein Gedicht von Klaus Groth, das die Sehnsucht nach der Kindheit besingt: „O wüsst’ ich doch den Weg zurück …“. Ja, manchmal tut es gut, zurückzuschauen. Doch kann auch alles anders
sein. Schreiben Sie doch ein Gegengedicht. Beginnen Sie mit den Worten:
„Ich brauche keinen Weg zurück …“
Lassen Sie die Worte frei fließen und entdecken Sie, welche Antworten aus Ihrer heutigen Perspektive entstehen.
In diesem Sinne viel Freude beim Schreiben - und vielleicht sehen wir uns ja beim nächsten VHS Workshop?
Herzliche Grüße
Ihre Ute Matthias