
Ein Baum braucht Pflege
„Schneiden Sie die Äste zurück und pflücken Sie totes Laub ab.“ — Roy Peter Clark
Ich liebe dieses Bild.
Wenn wir Texte kürzen, nehmen wir ihnen nichts weg – wir schaffen Platz. Für Luft. Für Rhythmus. Für das, was leuchtet.
Auswahl statt Axt
Roy Peter Clark beschreibt in seinem Buch „Die 50 Werkzeuge für gutes Schreiben“, wie Kürze entsteht:
nicht durch das bloße Streichen von Wörtern, sondern durch Auswahl. Man soll, so schreibt er, zuerst die dicken Äste beschneiden – nicht die Blätter.
Ich wollte das ausprobieren. Und zwar an einer Szene aus meinem Cozy-Krimi „Frau Freitag ermittelt – Tod am Leinpfad“ (meine neueste Idee wegen NaNoWriMo - bisher nur ein Anfang).
Darin lernen wir Helen Freitag kennen – eine pensionierte Deutschlehrerin, die noch immer dazu neigt, alles zu korrigieren: ihre Mitmenschen, die Welt, manchmal sogar sich selbst. In dieser Szene trifft sie zum ersten Mal auf Andreas Beckerle. Ein gewöhnlicher Spaziergang – und doch wird sie später wissen, dass dieser Morgen alles verändert hat.
Die lange Version
Der Morgen roch nach feuchtem Laub und Kaffeesatz. Helen Freitag stand am offenen Fenster ihres kleinen Hauses am Hang, sah hinunter zur Ruhr und nahm sich fest vor, heute nichts zu verbessern – weder Texte noch Menschen.
Drei Wochen Ruhestand, und schon ertappte sie sich wieder dabei, Rechtschreibfehler in der Tageszeitung zu unterstreichen. Gestern hatte sie sogar beim Bäcker das Apostroph im „Croissant’s“ bemerkt und sich mit beiden Händen an der Jackentasche festgehalten, um nichts zu sagen.
Sie trank den letzten Schluck Kaffee, zog ihre windfeste Jacke an und schnappte sich das Notizbuch, das sie seit Jahren überallhin mitnahm. „Man weiß ja nie, wofür man’s braucht“, murmelte sie.
Der Leinpfad lag ruhig da, in feinem Nebel gehüllt, als wollte der Fluss noch kurz ausschlafen. Ein Jogger grüßte, zwei Hunde stritten sich um einen Stock. Helen liebte diesen Weg – die leisen Schritte auf dem feuchten Boden, das Rascheln der Blätter, die Nähe zum Wasser.
Erst als sie sich bückte, um eine glänzende Kastanie aufzuheben, sah sie ihn: einen Mann mit kakifarbener Jacke, der am Ufer stand und irgendetwas in der Luft steuerte. Ein leises Summen, dann ein Zischen – eine Drohne, elegant wie eine Libelle.
„Gott im Himmel“, sagte Helen halblaut. „Jetzt fliegen sie schon über die Ruhr.“
„Nur ganz kurz!“, rief der Mann, ohne sich umzudrehen. „Ich teste die Kamera.“
„Na, hoffentlich nicht an mir!“, rief Helen. „Obwohl – vielleicht bin ich ja ein lohnendes Motiv?“
Er drehte sich um, ein unsicheres, beinahe schuldbewusstes Lächeln auf den Lippen. Helen lächelte zurück, obwohl sie gar nicht wusste, warum.
Die gekürzte, aber atmende Version
Der Morgen roch nach feuchtem Laub. Helen Freitag stand am offenen Fenster, sah hinunter zur Ruhr und nahm sich fest vor, heute nichts zu verbessern – weder Texte noch Menschen. Eine lächerliche Idee, wenn man jahrzehntelang Deutschlehrerin war.
Drei Wochen Ruhestand, und schon ertappte sie sich wieder beim Korrigieren von Rechtschreibfehlern in der Zeitung. Sie lächelte, trank den letzten Schluck Kaffee und zog die Jacke an. Heute würde sie nur spazieren gehen. Keine Grammatik. Kein Perfektionismus. Nur Luft.
Der Leinpfad lag still unter einem Schleier aus Nebel. Ein Jogger grüßte, ein Hund schleppte einen viel zu großen Ast. Helen liebte diesen Weg – den Geruch, das Rascheln, das leise Plätschern am Ufer. Dann hörte sie es: ein metallisches Summen. Eine Drohne schwebte über dem Wasser.
„Gott im Himmel“, sagte Helen. „Jetzt fliegen sie schon über die Ruhr.“
„Nur kurz“, rief ein Mann. „Ich teste die Kamera.“
„Na, hoffentlich nicht an mir!“, rief Helen. „Obwohl – vielleicht bin ich ja ein lohnendes Motiv?“
Er drehte sich um, lächelte – ein kleines, unsicheres Lächeln, das sie noch lange im Kopf behalten würde.
Später würde sie sich fragen, warum sie ausgerechnet an diesem Morgen dort entlanggegangen war.
Was ich gestrichen habe – und warum
Roy Peter Clark empfiehlt, zuerst die großen Brocken zu entfernen, bevor man an Kleinigkeiten geht.
Ich habe mich genau daran gehalten – und festgestellt: Es tut weniger weh, als man denkt.
Zuerst fielen die großen Äste: die Hausbeschreibung, der Bäcker, das Croissant’s.
Ich mochte sie – aber sie lenkten vom eigentlichen Moment ab: Helen, die zum ersten Mal wieder frei atmet.
Dann kamen die doppelten Bilder. „Feuchtes Laub und Kaffeesatz“ wurde zu „feuchtes Laub“. Ein Geruch genügt, um den Herbst heraufzubeschwören.
Ein paar Füllwörter – „schon“, „noch“, „eigentlich“ – durften gehen.
Und einige Verben wurden klarer: Aus „stand und sah hinunter“ wurde „nahm sich vor“. So bekam der Text Richtung.
Zuletzt habe ich den Rhythmus geordnet. Kurze und längere Sätze wechseln sich ab – wie Atemzüge beim Gehen. So entsteht Spannung, ohne Hast.
Das Ergebnis: Die Szene ist leichter, aber nicht leer. Helen bleibt nahbar, lebendig – und der Leser will wissen, was hinter diesem Lächeln steckt.
Was du selbst tun kannst
Wenn du deinen Text auf Diät setzen möchtest, hilft Folgendes:
- Kürze mit Abstand. Lies am nächsten Tag, nicht direkt nach dem Schreiben.
- Streiche Absätze, nicht Wörter. Große Schnitte bringen Klarheit.
- Bewahre Atmosphäre. Lass stehen, was Nähe schafft.
- Spiele mit Rhythmus. Abwechslung in Satzlängen schafft Musik.
- Lies laut. Dein Ohr erkennt, was atmet – und was stolpert.
✍️ Schreibimpuls zum Herbst
Tag 1 – Erinnern und fließen lassen
Stell dir einen Herbsttag vor, du bist jung, vielleicht 17, 18 oder 19.
Wie roch die Luft? Welche Farben hatten die Bäume, die Wege, deine Kleidung? Wer war bei dir?
Schreib frei, ohne Nachdenken, ohne Korrekturen.
Erzähle eine kleine Szene, in der etwas zu Ende geht – ein Tag, ein Besuch, die Zeit in deinem Elternhaus? Die Schule? Lass alles zu, was kommt.
Tag 2 – Kürzen und klären
Am nächsten Tag lies deinen Text noch einmal. Markiere, was du liebst – und streiche, was du nur geschrieben hast, um brav oder vollständig zu sein. Folge Roy Peter Clark: Schneide die Äste
zurück, pflücke totes Laub ab. So wird deine Erinnerung klarer, konzentrierter, wahrer.
Tag 3 – Verdichten und verwandeln
Jetzt schreib aus deinem geklärten Text eine Verdichtung: Ein Elfchen, also ein Gedicht mit elf Wörtern.
Ein Wort in die erste Zeile, zwei in die zweite usw. In die letzte Zeile kommt nur eins, das elfte.
Fang den Kern ein: das Gefühl, das bleibt, wenn alles Überflüssige gegangen ist.
In diesem Sinne einen wunderschönen Herbst dir!
Herzliche Grüße
von Ute