· 

Reframing: Ein ganz normaler Schultag in zwei Deutungen

Variante 1

Es war die Nacht vor meiner Informatiklehrprobe und ich wälzte mich hin und her. Ging in Gedanken die einzelnen Abschnitte noch einmal durch. Versuchte mich an den Wortlaut des Tafelbildes zu erinnern ... Gegen Morgen schlief ich ein. Um 4.45 Uhr ging das Licht meines Lichtweckers an und um 5 Uhr das Ding-Dang-Dong. Ich stemmte mich aus dem Bett und schlurfte in die Küche - Kaffeepads leer. Also Pulverkaffee oder Tee. Im Badezimmer kam eher lauwarmes Wasser aus der Dusche - manche Tage beginnen einfach schon so, dass man gleich zurück ins Bett gehen sollte. Ich zog mich rasch an, der Strumpf hatte ein Loch - egal, und fuhr durch die regennasse Stadt in die Schule. Ich hatte das Gefühl, dass alles an mir irgendwie "hing": Die nassen Strümpfe, Schuhe und Hosen ebenso wie meine Mundwinkel. Ich muss nicht erwähnen, dass alle Ampeln rot waren. In der Schule angekommen, musste ich vor der Lehrprobe meinen ganz normalen Unterricht halten und ging daher zur 1. Stunde in den Computerraum meiner Gymnasialen Oberstufe. Ich war alleine. Die Schüler - kurz vor dem Abitur - hatten beschlossen heute mal nicht zu kommen. Super. Wozu war ich dann so früh angereist? Die 3. Stunde musste ich in eine Berufsschulklasse, die mit mir ein Kritikgespräch über meinen Unterricht führen wollte - dazu hatte ich im Moment so viel Lust wie auf Cholera. In der 4. Stunde war die Zulassungskonferenz fürs Abitur, mir blieb an diesem Tag auch nichts erspart. Als endlich die 5. Stunde kam, war ich bereits völlig erschöpft. Ich raffte noch einmal alle Kräfte zusammen; in der Mitte der Stunde hatte ich einen kleinen Schwächeanfall und musste das Fenster öffnen. Tief atmen, bloß nicht umkippen. Die Stunde läuft, ich nehme alle Geräusche überdeutlich wahr. Am Ende sind wir mitten in einer Transferaufgabe. So ein Mist.

 

Variante 2

Mir steht ein wichtiger Tag bevor. Glücklicherweise schlafe ich in der Nacht zuvor nicht allzu tief und höre und sehe meinen Licht- und Ding-Dong-Wecker um 4.45 Uhr laut und deutlich. Das gibt mir genug Zeit zum Fertigmachen im Bad und zum Frühstücken. Ich kann mich auch sorgfältig anziehen. Dass aus der Dusche nur lauwarmes Wasser kommt, ist mir gerade recht, dadurch werde ich schneller wach und der Übergang zum kalten Abschlussguß ist leichter. Beim Anziehen bemerke ich das Loch in meinem Feinstrumpf und werfe einen kurzen Blick nach draußen. Es ist ein Tag für festere Strümpfe und Schuhe. Auf dem Weg zur Arbeit bin ich froh, dass ich öfter mal auf eine rote Ampel treffe an der ich Zeit habe mein Mantra für den Tag zu meditieren. Bei meiner kleinen Ampelmeditation beobachte ich die Regentropfen, die langsam an der Scheibe hinunterrinnen und integriere sie in die Meditation. Ein Glück, dass es regnet, bei sonnigem Wetter säße ich auch lieber am Rhein statt zu arbeiten.

 

In der Schule angekommen entfallen meine ersten beiden Stunden, weil die Abiturschüler sich wohl auf ihre Kernfächer konzentrieren. Das gibt mir die Zeit alle Unterlagen für die Lehrprobe noch einmal in Ruhe durchzugehen, ich habe ein ganzes Klassenzimmer und viel Ruhe für mich. In der Stunde danach bittet mich meine Berufsschulklasse um ein Gespräch über meine Unterrichtsmethoden. Da ich mich gerne weiterentwickle und immer offen bin für neue Impulse, lege ich einen Gesprächstermin für den kommenden Montag fest. Die Art wie das Anliegen vorgebracht wird, erinnert mich daran, dass diese Klasse unbedingt noch Unterricht in Sozialkompetenz braucht, ich notiere das.

 

Danach habe ich noch einmal Zeit einen klaren Kopf zu bekommen, da ich in der Zulassungskonferenz zum Abitur nur zuhören muss. In der Pause vor meiner Lehrprobe erwarten mich die Lehrprobenschüler schon vor der Klassenzimmertür, weil sie mich unterstützen wollen. Die Lieben! Durch mein Lampenfieber erreiche ich höchste Aufmerksamkeit und Konzentration während der folgenden 45 Minuten. Die Schüler machen hervorragend mit, alles klappt wie am Schnürchen. Als mir in der Mitte der Stunde kurz schwummrig wird, öffne ich das Fenster. Wie gut, dass mein Körpfer mir anzeigt, wenn ich Frischluft brauche. Als die 45' um sind, haben wir genau das Pensum geschafft, das ich vorgesehen hatte. Wir machen eine kleine Zwischenergebnissicherung und den Rest der Aufgabe erledigen die Schüler zuhause. Die Schüler und ich sind sehr zufrieden miteinander und verabschieden uns freundlich. Die Muffins für die kommende Stunde haben sie sich redlich verdient.

 

Ich persönlich ...

ärgere mich manchmal wahnsinnig, wenn mich jemand fragt "Was ist das Positive an dieser Geschichte?", während ich eine Litanei von Negativitäten herunterrattere. Allerdings ist es ja so, dass JEDE Geschichte zwei Seiten hat und das Leben ist viel viel leichter, wenn man sich in einer scheinbar ausweglosen Situation einfach mal hinsetzt und eine "Variante 2-Geschichte" schreibt.

 

Reframing ist eine Methode aus dem Coaching und bedeutet übersetzt so viel wie "etwas einen neuen Rahmen geben" oder "umdeuten". Versucht es mal. Es kann sogar Spaß machen und ich verspreche euch, dass ihr nach dem Aufschreiben von Variante 2 in definitiv besserer Stimmung seid.

 

Kommentare und Erfahrungen dazu gerne unten.

 

Herzliche Grüße

Eure Ute

Kommentar schreiben

Kommentare: 1
  • #1

    Lissy (Mittwoch, 11 April 2018 14:31)

    Sehr gute Methode, und so gut dargestellt, das motiviert zum nachmachen! Das werde ich ab sofort probieren: wenn meine Kinder mich auflaufen lassen, freue ich mich stattdessen darüber, dass sie immer selbstbestimmter werden und ihr Leben selber in die Hand nehmen wollen :-)