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Unterrichtsstörung beseitigt. Zuhören!

Und plötzlich war es still

In meiner Chaotenklasse ist Ruhe eingekehrt seit der Woche vor den Herbstferien. Ich rätsle noch immer, wie das passiert ist, aber es ist so. Sie sind nicht automatisch zu Superschülern avanciert, aber es gibt keine Summ-, Brumm- und sonstigen Geräusche mehr. Ich kann ein Tafelbild erstellen, ohne dass Flaschen hinter mir fliegen, es scheint tatsächlich vorbei zu sein. Ein Schüler wurde in eine parallele Lerngruppe versetzt, zwei Schüler sind verwarnt worden. Jetzt ist Ruhe erstaunlicherweise.

 

Die Schüler kommen ins Erzählen

In der letzten Stunde vor den Herbstferien waren nicht alle Schüler*innen da, die Bahn streikte, es war relativ ruhig in der Klasse. Ein Schüler erzählte, dass er heute für den Test in einer Fremdsprache nichts gelernt hat und daher auch nur zwei Vokabeln konnte. Ich frage ihn, ob er stolz darauf ist, es hörte sich nämlich so an. Aber nein, er antwortet, dass er auf zwei Klausuren lernen musste und der Test als drittes hinzukam. Da hatte er sich einfach für das Lernen auf die Klausuren entschieden.

 

Ich sage ihm, dass ich das gut verstehen kann und es natürlich in Ordnung ist, seine Auswahl zu treffen, was einem wichtiger ist, dass ich aber der Meinung bin, dass es zum Erwachsen werden dazugehört, dass man auch die Konsequenzen der eigenen Entscheidungen trägt. Man lernt für zwei Arbeiten und nicht für den Test und bekommt eine 5 oder 6 für den Test und findet das in Ordnung, weil man halt nicht gelernt hat. Der Schüler nickt, das versteht er.

 

"Hätte es auch eine Möglichkeit gegeben, alles drei zu machen?" frage ich ihn und er antwortet

"Klar, dann hätte ich früher anfangen müssen."

 

Die Atmosphäre in der Klasse ist zum ersten Mal angenehm und entspannt. Andere Schüler melden sich. Sie möchten erzählen, wie es ihnen auf der neuen Schule geht. Ich bin auch entspannt, habe nicht allzu viel für die Stunde geplant, da sowieso viele Schüler*innen fehlen und höre einfach mal zu. Ein bisschen nervig finde ich, dass alle reden wollen und sie einander nicht wirklich zuhören.

 

Wunsch nach mehr Freiheit beim Lernen

Ein Schüler erzählt, dass er die enge Führung in der Schule als einengend erlebt, gerne projektorientierter arbeiten möchte. Das ist ein Thema, mit dem ich mich derzeit stark befasse. Ich lese Hybridlernen 101 und bin angefixt. Das Buch ist vielgestaltig und die Themen, die aufgegriffen werden auch, aber mich fasziniert vor allem ein Gedanke: Warum stellen wir Lehrer*innen eigentlich den Schüler*innen Fragen, deren Antworten wir bereits vorher kennen? Wäre es nicht sinnvoller, die Schüler*innen mit einem Impuls zu konfrontieren und sie dann selbst dazu Fragen stellen zu lassen? Fragen, deren Antworten sie interessieren? Motivieren? Sie zur selbstständigen Arbeit bringen?

 

Vor diesem Hintergrund höre ich den Schüler*innen zu. Ich würde gerne mit Schüler*innen arbeiten, die selbst etwas herausfinden wollen, anstatt dass ich ihnen alles erkläre und sie dann meine Lösungen nachahmen, im besten Fall weiterentwickeln. Leider habe ich noch ganz wenig Einfälle dazu, wie sich das auf den Stoff anwenden lässt. Ich bin gerade bei Buchführung, die Vorgehensweise auf T-Konten die doppelte Buchführung zu lernen, erscheint mir eh nicht mehr so ganz zeitgemäß. Aber welchen Impuls könnte ich den Schüler*innen geben, damit sie selbst buchen lernen wollen? Ich weiß es noch nicht, es ist noch zu frisch, ich muss das erst noch ein bisschen reifen lassen in meinem Inneren. Oder vielleicht Lösungen anderer Lehrer*innen zu diesem Thema sehen. Mehr Zeit, weniger Inhalt im Stoffplan, das wäre schon mal eine gute Voraussetzung.

 

Gibt es ein Recht auf Freizeit für Schüler*innen?

Andere Schüler*innen erklären, dass es ihnen schwerfällt, mit dem ganzen Arbeitspensum in der neuen Schule zurechtzukommen. Sie haben fast jeden Tag 8 Stunden Unterricht, dann kommen sie nach Hause, müssen noch für Klausuren lernen, Hausaufgaben machen. Ein bisschen Freizeit möchten sie auch noch haben, manche müssen arbeiten gehen. Klar, kann man jetzt sagen, warum arbeiten sie denn, sollen sich auf die Schule konzentrieren. Allerdings wissen wir alle nicht, wie die finanziellen Verhältnisse zuhause aussehen und viele meiner Schüler*innen kommen, glaube ich, nicht aus betuchten Familien.

 

Den Eltern zuliebe

Es gibt auch Schüler*innen, die berichten, dass die Eltern sie auf diese Schule gezwungen haben und sie - obwohl sie die wirtschaftliche Ausrichtung nicht wirklich interessiert - versuchen den Eltern eine Freude zu machen und sich daher anstrengen zu bleiben. Ich versuche sie darauf hinzuweisen, dass man dennoch sehen sollte, was man selbst gerne macht. Eine falsche Ausrichtung am Anfang wird häufig nicht mehr korrigiert und nachher findet man sich in einem kaufmännischen Beruf wieder, obwohl es einen eigentlich gar nicht interessiert. Und dann sind 40 Jahre Arbeitsleben ganz schön lang.

 

Am Ende gehen wir auseinander und ich habe zum ersten Mal das Gefühl, dass es doch noch klappen könnte mit der Beziehung zwischen dieser Klasse und mir.

 

Mehr Verantwortungsübernahme für den eigenen Lernprozess

In dieser Woche habe ich sie nun mit meinen neuen Überlegungen konfrontiert: Als einen ersten Schritt dürfen die Schüler*innen in der Zukunft (Probezeitraum erst mal bis Weihnachten) selbst entscheiden, ob sie Hausaufgaben machen oder nicht. Wenn sie sie machen und zeigen, dann erhalten sie ein Plus, das Minus für nicht gemachte Hausaufgaben entfällt. Eine kleine Sicherheitskontrolle musste ich allerdings für mich selbst noch einbauen, ca. alle vier Wochen möchte ich in einem kleinen Test überprüfen, ob noch alle an Bord sind. Die erste freiwillige Hausaufgabe hat niemand gemacht. Ich muss mich erst mal daran gewöhnen, nun nicht nervös zu werden, sondern wirklich den Schüler*innen die Wahl zu überlassen und ihnen zuzutrauen damit umzugehen. Das wird wohl ein Lernprozess für beide Seiten.

 

In diesem Sinne ein schönes Wochenende, in der nächsten Woche geht es wieder los mit dem Lockdown, schaun mer mal ... bleiben Sie gesund und erholen Sie sich ein wenig,

freundliche Grüße

Ute Matthias

 

 

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